Ahnenbotschaft: Ihr seid noch nicht am Ziel

Welcher Ahne oder welche Ahnin aus dem kollektiven Ahnenfeld überbringt uns eine Botschaft?
Ich sehe eine Frau, elegant gekleidet in einem blauen Kleid mit passendem Hut und Schirm.
Es ist Nacht, wir sind in einer Stadt. Das Kopfsteinpflaster auf dem sie steht, glänzt feucht im Licht einiger Gaslaternen, die am Straßenrand stehen. Ich vermute wir befinden uns im 19. Jahrhundert. Um die Frau herum ist ein funkeln, ein goldiges glitzern, das ich mir nicht erklären kann. Es wirkt magisch.
Sie überquert die Straße, schaut zu mir herüber, sagt "Folge mir" und geht zielstrebig weiter. Ich folge ihr mit ein wenig abstand, weil ich sie mit ihren schnellen Schritten erstmal gar nicht einholen kann. Eigentlich bin ich mir nicht einmal sicher, ob sie geht. Fast wirkt sie als ob sie schwebt, ja fast fliegt. Mehr und mehr hebt sie vom Boden ab. Ich fühle mich an Mary Poppins erinnert. "Warte" rufe ich aus Sorge, dass sie mir davon fliegt. Ich renne. Meine Schritte hallen laut auf dem Kopfsteinpflaster in der leeren Straße. Sie macht kein Geräusch.
Sie blickt amüsiert und gut gelaunt über ihre rechte Schulter zu mir, während sie ungebremst weiter schwebt, sogar schneller wird. Was geht hier vor?
Sie biegt, jetzt bestimmt einen halben Meter über der Straße schwebend, rechts um die Ecke und aus meinem Blickfeld. Ich renne um sie nicht zu verlieren.
Als ich um die Ecke biege komme ich in eine unbeleuchtete Seitengasse. Dunkelheit umfängt mich. Ich bleibe stehen, weil ich nichts sehe. Die schwebende Frau ist verschwunden mit ihrem Glanz und ihrem Lächeln. Vor mir am Boden liegt etwas… nein jemand. Sie liegt dort. Bleich und leblos. Ich erschrecke. Ein Geist? Ich bin ihrem Geist zu ihrem Körper gefolgt. Was ist hier los?
Ich fühle wie die Zeit beginnt rückwärts zu laufen. Schemenhaft kann ich im Schnelldurchlauf erkennen, dass sie gewaltsam zu Tode kam, dass zwei Männer da waren. Dann sehe ich sie rückwärts durch die Straßen gehen, diesmal geht sie wirklich. Dann sehe ich sie rückwärts in ein Haus gehen. Hier hält die Zeit an. Ich stehe vor dem Haus aus dem sie gleich herauskommen wird und da geht die Tür auch schon auf.
"Melodie!" höre ich eine Stimme flüsternd rufen und sie hält beim Öffnen der Tür inne und schaut zurück ins dunkle Haus. "Sei vorsichtig." flüstert die Stimme. Eine weibliche Stimme. Sie antwortet nicht, nickt nur. Dann tritt sie vor die Tür und sieht mich.
"Sag mir nicht, was mich erwartet." sind ihre ersten Worte, die sie an mich wendet. "Ich bin sicher du weißt es, doch bitte lass mich im Unklaren." Jetzt nicke ich. Was ein seltsamer Beginn für dieses Treffen. Noch seltsamer erscheint mir, dass es mich gar nicht erschreckt, mit ihr ihre letzten Schritte zu gehen, nur wenige Minuten von ihrem Tod entfernt. Ich habe kein Bedürfnis sie zu warnen oder zu retten, das liegt auch gar nicht in meiner Macht. Aber es liegt in meiner Macht, ihre Botschaft zu hören.
Gemeinsam gehen wir die Straße hinunter. Sie hat sich bei mir wie bei einer Freundin und Vertrauten eingehakt und wir schlendern die Straße hinunter, als gingen wir an einem sonnigen Tag spazieren. "Schön, dass du hier bist" beginnt sie. Mit Blick auf die Läden und Straßenschilder erkenne ich, dass wir in Frankreich sein müssen.
"Wohin willst du mitten in der Nacht?" frage ich sie ganz direkt und sie antwortet genauso direkt "Zur Druckerei, in meiner Tasche habe ich den Text für unser nächstes Flugblatt. Die Männer drucken das nicht, aber die Frau eines Druckers unterstützt uns und ihr Mann fragt nicht, woher das Geld kommt und warum sie nachts arbeitet, solange nichts seinen Tagesgeschäft stört."
"Was steht in dem Flugblatt?" frage ich weiter. "Wir kämpfen für die Rechte der Frauen. Wir fordern unser Recht auf Selbstbestimmung und wir wollen so viele Frauen wie möglich mit unseren Botschaften erreichen. Wir sind die Hälfte der Bevölkerung und wir werden behandelt wie Bedienstete oder dumme Kinder." Ich spüre ihr Feuer. "Männer entscheiden über unser gesamtes Leben. Was wir lernen dürfen, wann und wen wir heiraten, wann wir Kinder bekommen oder nicht, ob wir ausgehen dürfen oder nicht, ob wir arbeiten sollen oder nicht, was uns glücklich und zufrieden machen soll. Wie Puppen werden wir präsentiert und wie Sklaven werden wir herumkommandiert. Nur dass es heute keine Sklaven mehr gibt, so dass sich die Männer ganz darauf konzentrieren können uns Frauen zu demütigen." In ihr kocht Wut hoch und ich habe das Gefühl in einen tiefen Abgrund zu blicken.
"In unseren Flugblättern klären wir Frauen auf. Über ihren Körper und über ihr Recht 'Nein' zu sagen! Wir helfen Frauen, die misshandelt werden. Wir helfen Frauen mit ihren Kindern gewalttätige Männer zu verlassen. Wir helfen Frauen aus Notsituationen heraus. Dafür haben wir ein Netzwerk. Reiche Witwen sind unsere Hauptsponsorinnen. Teilweise stellen sie Frauen in Not ein, aber sie finanzieren auch unsere Flugblätter und Aufklärungsarbeit. Sie finanzieren Notunterkünfte. Teilweise arbeiten wir mit Frauenklöstern zusammen, aber das funktioniert nicht immer. Auch dort haben häufig die Männer das letzte Wort." Wieder funkeln ihre Augen.
"Ist es strafbar, was ihr tut?" frage ich. "Nicht direkt." sagt sie. "Aber wir sind nicht gern gesehen. Wir werden regelmäßig bedroht und angegriffen. Man versucht uns anzuklagen und zu verleumden, darum achten wir sehr genau auf die geltenden Gesetze. Was nicht heißt, dass unsere Gegner, die Männer, die Angst haben, sie könnten die absolute Macht verlieren, sich auch an die Gesetze halten. Sie kämpfen mit allen Mitteln, um uns zum Schweigen zu bringen. Was uns nur zeigt, wie viel Macht wir Frauen tatsächlich haben!"
Ihr breites Grinsen ist ansteckend. Ich fühle ihren Stolz auf ihre Arbeit und ihre Überzeugungskraft. "Bist du verheiratet?" frage ich sie. "Nein. Ich sollte es längst sein, aber mein Bruder hat andere Interessen als mich zu verheiraten. Unser Vater lebt schon lange nicht mehr und so hatte ich das seltene Glück lernen zu können, was ich wollte und mich für Frauen zu engagieren, denen es nicht so gut geht." "Woher kommt dein Antrieb, wenn nicht aus eigener Erfahrung?" frage ich nach. "Wer sagt, dass ich keine eigene Erfahrung habe? Mein Vater war ein Tyrann. Er schlug meine Mutter grün und blau und uns Kinder ebenfalls. Wenn nicht in einem seiner rasenden Wutanfälle sein Herz stehen geblieben wäre, sähe mein Leben heute anders aus. Darum lässt mein Bruder mich machen, was ich will. Er leckt seine eigenen Wunden und sieht darin einen stillen Akt der Rache an meinem Vater, dass weder er noch ich so leben, wie er es für uns vorgesehen hatte." Der triumphierende Ausdruck in ihrem Gesicht wirkt jetzt wie eine einstudierte Grimasse.
"Was ist deine Botschaft für uns im 21. Jahrhundert?" frage ich sie. "Wie weit sind wir Frauen gekommen in deiner Zeit?" fragt sie zurück. "Puh… schwere Frage." sage ich und überlege, was ich ihr sagen soll, doch sie zieht ihre Schlüsse aus meiner Antwort: "Nicht weit genug, nehme ich an." "Ja und Nein" antworte ich zögerlich. "Mein Gefühl ist, dass Mädchen und Frauen zumindest in meinem Land alles dürfen was auch Jungs und Männer dürfen, aber wir stehen unter so viel mehr Druck. Und wir müssen uns oft entscheiden, zwischen Familie und Karriere oder uns zwischen beidem aufreiben lassen. Ich glaube, wir Frauen sind viel männlicher geworden und haben viele weibliche Qualitäten vergessen. Ich weiß nicht wirklich, ob das die Freiheit ist, von der Frauen seit Jahrhunderten träumen." Sie hört aufmerksam zu und sie fühlt auch in unsere Zeit hinein und lächelt.
"Wir sind weit gekommen, danke dir, dass ich wahrnehmen durfte, dass alles wir tun einen Sinn hat. Und ich weiß auch, was ihr tun könnt: weiter Träumen!" Ich bin überrascht. "Hört auf euch einzureden und einreden zu lassen, dass ihr am Ziel seid. Wenn es sich nicht gut und frei anfühlt, ist es nicht das Ziel. Dann seid ihr noch auf dem Weg, egal wie viel ihr schon erreicht habt! Träumt weiter! Wie soll euer Leben aussehen? Wie sollen Mädchen aufwachsen? Wie sollen Frauen leben? Wie soll die Welt durch den authentischen und weiblichen Beitrag der Frauen verändert werden? Stellt euch solche Fragen und träumt weiter. Glaubt an eure Macht, blickt zurück auf uns und in die Geschichte und erkennt, was ihr alles schon bewegt habt. Erkennt eure Macht und lasst euch nicht erzählen ihr hättet alles erreicht, bevor ihr euch nicht voll und ganz wohl fühlt in euren Leben."
Wow. Sie ist gut darin flammende Reden zu halten und die Dinge auf den Punkt zu bringen. Sie hat so recht. Und mir wird ganz flau. Sie hat mir hier eine Erkenntnis geschenkt, die ich bisher weggedrückt habe: wir sind nicht am Ziel. Selbst ich lebe kein völlig freies Leben. Denn es gibt Orte und Zeiten an denen Frauen nicht sicher sind. Und wenn ich in der Stadt unterwegs bin, spüre ich wie meine Sinne fortwährend die Umgebung auf Gefahren abtasten und wie ich mir überlege, welche Kleidung mich schützt. Verrückt, oder?
Und noch mehr fehlt in dieser Welt, um sich als Frau richtig wohl zu fühlen. Verbundenheit unter Frauen, liebevolle Mutter-Tochter-Beziehungen, die Anerkennung unserer weiblichen Intuition und übersinnlichen Wahrnehmungen, … ach, mit dieser Aufzählung werde ich so schnell nicht fertig.
Ich habe einen Kloß im Hals und Tränen in den Augen. Es ist wahr. Wir sind noch lange nicht am Ziel, auch wenn wir weit gekommen sind. Melodie nimmt mich in den Arm und wir halten uns eine ganze Weile lang einfach fest im Angesicht unserer Herausforderungen. Dann löst sie sich und schaut mir tief in die Augen und da ist das Funkeln wieder. "Ich muss weiter." sagt sie dann "und du solltest jetzt gehen." Ich weiß, was ihr jetzt geschieht und ich glaube, sie weiß es auch. Wenn nicht heute, dann wann anders. Sie ist sich der Gefahr bewusst und bereit ihr zu begegnen. Sie lässt sich nicht einschüchtern.
Die Zeit läuft jetzt wieder schnell vorwärts. Wieder erlebe ich schemenhaft, wie durch ein Milchglas die Ereignisse dieser Nacht. Und dann bin ich zurück in der dunklen Gasse, aber es ist Tag. Melodies lebloser Körper ist verschwunden und die Straßen sind voller Frauen aller gesellschaftlichen Schichten. Wo sie starb steht eine andere Frau und hält eine flammende Rede, die nicht weniger Entschlossenheit und Wut enthält. Gerechtigkeit für Melodie fordern sie. Ich weiß nicht wie viele Frauen als Märtyrer für die Rechte der Frauen gestorben sind. Ich vermute es waren nicht wenige. Wundervolle, starke Frauen, die wir nicht vergessen sollten und die auch heute noch hinter uns stehen, die uns aus dem Ahnenfelde heraus unterstützen.
Ich gehöre heute zu den freien Frauen in einer männlichen Welt - und wir sind noch nicht am Ziel.
Danke Melodie, dass du uns daran erinnerst. (empfangen zum Rosenmond 2024)
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